Ein stickiges Frauenwohnzimmer mit lauter gehäkelten Lügen

Müsste ich den ersten Tag in Klagenfurt bei den 35. Tagen der deutschsprachigen Literatur 2011 charakterisieren, könnte ich es am besten mit einer Passage aus dem Text von Antonia Baum:
»Mein Kopf ist ein aus der Vergangenheit hier her getragener und auf meine zeitgenössischen Kleider draufgesetzter, nichts weiter. Nichts hat sich in dem Kopf verändert, er ist ein stickiges Frauenwohnzimmer mit lauter gehäkelten Lügen darin, die unaufgedeckt herumliegen, er ist vollgestopft mit Lockenwicklern und Gardinen. Gardinen, die ich nicht selber angebracht, sondern dafür den ferngesteuerten Gärtner hergeholt habe, der mir überhaupt mein ganzes Leben anbringen und zurechtnageln soll und insofern hat sich der ferngesteuerte Gärtner ja doch nicht verkalkuliert, sondern genau richtig gerechnet, denke ich nickend und betrachte Patrick und den Schriftsteller, die ihr langweiliges Gespräch essen müssen, die aus rein ökonomischen Gründen dazu gezwungen sind es zu essen.«
Entzückend ist wahrscheinlich der Grund für die Einladung von Hubert Winkels an Antonia Baum, aber ob sich das auf den Text bezieht? »Warum hat Winkels die vorgeschlagen? So alt ist der doch noch gar nicht, dass der eine 27Jährgige mal ficken sagen hören will.« fragt Wolfgang Tischer vom Literaturcafé via Twitter.
Ich bin mir noch nicht ganz schlüssig, ob Baums Text für mich nicht doch der beste Text des ersten Tages war. Vom Milieu des Textes und vom Alter der Autorin her gesehen, könnte sie in diesem Jahr, die Rolle von Dorothee Elmiger übernehmen. Der Elmiger Text war allerdings besser.
Daniel Wissers Text war für mich der grauenvollen Passivkonstruktionen und fehlgeleiteter Konjunktive wegen eine ungenießbare Provokation. Maximilian Steinbeis hatte mit einem gefälligen, ironischen Text »einen Schatz vergaben.« Zu Anna Maria Praßler fällt mir nichts ein. Gunther Geltinger las als erster und hatte naturgemäß einen sehr schweren Stand. Die Kritik via Twitter an seinem Vortragsstil fand ich ungerecht; dass Autor und Protagonist eines Textes stottern ist kein Qualitätsmerkmal. Es war einfach schade, dass er der Aufregung wegen manche Passagen nicht im Zusammenhang lesen konnte und so den Text stellenweise ungewollt zusätzlich zerlegte.
Frau Strigl ist zurück in der Jury; ein Lichtblick. Die fröhliche Hilde war heute auch nicht aus der Ruhe zu bringen. Vielleicht sollte man Dieter Moor reaktivieren Frau Stadler wirkte doch sehr routiniert.
Für mich ein anstrengender Tag, fünf Stunden Multitasking, Fernseher weil der Livestream auf dem Notebook zeitversetzt ankam, Text am Bildschirm mitlesen, Twitter und Chat im Auge behalten. Am meisten fehlte mir der Wörthersee.

siehe auch: Von der Norm, der Abweichung und den Fertigteilen
Tage der deutschsprachigen Literatur

Erich Mühsam – Tagebücher

Erich Mühsam Foto: Bundesarchiv Bild 146-1981-003-08
Erich Mühsam Foto: Bundesarchiv Bild 146-1981-003-08

München, Dienstag, d. 9. Mai 1911.

Abends Torggelstube. Zuerst traf ich nur Eyssler dort, der mir mit seinen lispelnden, wienerisch-urnischen Vertraulichkeiten schauderhaft auf die Nerven ging. Ein Kretin. Er ging bald und ich blieb ziemlich lange allein. Dann kam Wedekind, der sich wegen seines Verhaltens neulich entschuldigte, als er mit seiner Frau plötzlich aufbrach. Er sei in einem Zustand schwerer Depression gewesen, zumal Messthaler ihn auf 1000 Mark Konventionalstrafe verklagt habe, weil er ein Engagement im Intimen Theater nicht innegehalten habe.

Eine wunderschöne Online-Edition der Tagebücher von Chris Hirte und Conrad Piens in Kooperation mit dem Verbrecher Verlag Berlin. Mir gefällt besonders auch das Register.

Von der Norm, der Abweichung und den Fertigteilen

»Keiner, der schreibt, schreibt freiwillig so, wie er schreibt. Das gilt auch für Frauen.  Schreiben, ernsthaftes und existenzielles Schreiben, hält sich in Gebieten auf, in denen es weh tut und wo dieses Schreiben etwas Notwendiges und Unausweichliches wird. […]
Die Abweichung, die einen literarischen Text erst als solchen definiert, entsteht durch den Druck, den jemand oder ›es‹ – das Leben – auf uns ausübt und dem wir schreibend einen Gegendruck entgegen setzen, aus dem dann das Verformte, von der Norm Abweichende entsteht, das unsere Leser, wenn das Abenteuer geglückt ist, am Ende so entzückt. ›Der wunderbare Glanz eines Meisterwerks‹ so sagte es Walter Muschg, ›ist der Schmerz, der nicht mehr schmerzt. Ein vollkommenes Werk darf keine Spur des Leidens mehr an sich haben.‹«

Urs Widmer: Klagenfurter Rede zur Literatur 2011

Urs Widmers Rede zur Literatur am Eröffnungsabend der 35. Tage der deutschsprachigen Literatur 2011 bestach eher durch ihre Kürze als durch ihren Inhalt. Bei den Reden der Veranstalter und Sponsoren hatte man den Eindruck als gäbe es auch einen Preis für Eröffnungsreden. Würde man in Klagenfurt Trikotwerbung erlauben, könnten die Sponsoren endlich die Klappe halten.

Das Experiment mit dem etwas verschrammten Netbook gleichzeitig den Livestream aus Klagenfurt und Twitter im Auge zu behalten funktionierte ganz gut.

siehe auch: Ein stickiges Frauenwohnzimmer mit lauter gehäkelten Lügen

Literaturwissenschaft: Sehnsucht entziffern, Sommer beschwören

Als man im Vertrauen auf die eigene Repräsentativität nur laut genug »Ich« sagen musste, um die Bedeutung eines »Wir« zu erzeugen. Als man mit aufgekrempelten Gedanken den ganzen wissenschaftlichen Kram beiseite rücken konnte, all die Fußnoten, die Berge an Forschungsliteratur und das Klein-Klein akademischer Argumentation, weil dadurch der Bedarf nach frischer Gegenwart und Leben gestillt wurde, den auch die Wissenschaft ganz tief in sich verspürte. In seinem neuen Buch Stimmungen lesen beschwört der Romanist Hans-Ulrich Gumbrecht diese gute alte Zeit noch einmal herauf. Die zeitgenössische Literaturwissenschaft sieht er in »Lethargie und Unsicherheit« dahintreiben zwischen der Scylla dekonstruktiver Perlenspielereien und der Charybdis kulturwissenschaftlicher Allzuständigkeit. Die Rettung aus der »Stagnation« trägt ihm die Romantik zu: Gumbrecht empfiehlt das »stimmungsorientierte« Lesen.

via Literaturwissenschaft: Sehnsucht entziffern, Sommer beschwören. DIE ZEIT, 9.6.2011 Nr. 24

Weise

Meine müden Wörter kommt legt euch
warm nah zu mir nieder singt mir
ein paar alte Lieder wiegt mich
leicht betrügt mich nicht.
[…]

Ulla Hahn[1]

[1] U. Hahn, Freudenfeuer. gedichte, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1985.
[Bibtex]
@BOOK{Hahn1985,
title = {Freudenfeuer. Gedichte},
publisher = {Deutsche Verlags-Anstalt},
year = {1985},
author = {Hahn, Ulla},
address = {Stuttgart},
note = {Verfasserangabe: Ulla Hahn ; Quelldatenbank: DDB ; Format:marcform:
print ; Umfang: 103 S., 20 cm ; 3-421-06277-3 ; Pp. : DM 18.00},
howpublished = {Buch},
isbn = {3-421-06277-3; Pp.},
location = {1985 A 31410; D 85/44551},
type = {text}
}