»Alle Menschen dichten fast pausenlos, in Tagträumen, in ungeäußerten Wünschen, auch im Schlaf, meist ohne es zu wissen, meist ohne ihr Gedicht mitteilen zu können oder zu wollen. Das geschriebene Gedicht – nicht jedes, aber doch viele – ist ein Amalgam von Spontaneität und bewusster Kunst, manchmal Künstlichkeit (was nicht im herabmindernden Sinne gemeint ist). Es ist ein Stück Selbstverwirklichung, ein Stück Freiheit. Möglich, dass die künftige Gesellschaft, in der, laut »Kommunistischem Manifest«, »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«, eine Flut extrem subjektiver Gedichte hervorbringen wird. Vielleicht wird sie, im Gegenteil, keine Gedichte mehr kennen. Das Gedicht ist jedenfalls eine ziemlich unheimliche, weil gleichzeitig allgemeine und völlig einsame Erscheinung.«
[Stephan Hermlin, 1972]